Bevern. Mit Gutenbergs Erfindung des Buchdruckes mit beweglichen Lettern um 1450 erlebte Europa eine Informationsrevolution. Neuigkeiten, Zeitungen genannt, verbreiteten sich massenhaft in Flugblättern. Wissenschaft und Lehre präsentierten sich in frühen Buchdrucken. Damit eng verbunden begann die Blütezeit des Holzschnitts in Europa, die fast zwei Jahrhunderte dauerte und deren Zen-trum Deutschland und die Niederlande waren.
Mit der veränderten Textproduktion wuchsen der Wunsch und das kommerzielle Erfordernis, die Werke optisch attraktiv zu gestalten. Der Holzschnitt erwies sich als das geeignete Verfahren, auflagenstarke Bücher ansprechend zu bebildern. Denn die in ein Stück Holz geschnittene Druckvorlage, der sogenannte Druckstock, konnte in die gesetzten Bleilettern eingepasst und gemeinsam mit dem Text in einem Arbeitsgang ausgedruckt werden. Hatten im Zeitalter der Handschriften hervorragende Buchmaler für aufsehenerregende Werke gesorgt, sorgten im Zeitalter des frühen Buchdrucks ebenfalls großartige Künstler für eine neuartige, reizvolle Art der Illustration.
In den Historischen Bibliotheken im Schloss Bevern befindet sich ein früher Druck aus dem Jahre 1532 mit einer Fülle von Holzschnittdarstellungen. Es handelt sich um die deutsche Übersetzung einer philosophischen Abhandlung des römischen Politikers und Redners Marcus Tullius Cicero. Das lateinische Original wurde 44 vor Christus verfasst. Cicero entwarf in de officiis, Von den Pflichten, seine Vorstellung davon, was richtiges Handeln für die Menschen, und ganz besonders für Staatslenker, ausmacht. Diese Thematik traf den Geist der frühen Neuzeit. In der Renaissance waren Fragen nach der besten Staatsform und dem ethisch angemessenen Verhalten von Herrschern und Beherrschten viel diskutierte Themen. Nicht zufällig erschien ebenfalls im Jahre 1532 Macchiavellis Werk Il Principe, Der Fürst, die wohl berühmteste Schrift zur genannten Thematik.
Eine Übersetzung für das Volk
Johann Freiherr von Schwarzenberg war Grundbesitzer, Jurist, Dichter. Und er war Protestant, hatte am Reichstag von Worms teilgenommen, dort Luther vor Kaiser Karl V. gesehen. Hatte gesehen, wie ein Monarch selbst gut begründeten Widerspruch nicht gelten ließ. Er wollte die Auslegung wichtiger Schriften nicht weiter allein den Geistlichen und Gelehrten überlassen. Und so ließ er die officia, Ciceros philosophisches Hauptwerk, aus dem Lateinischen ins Frühhochdeutsche übersetzen, um die Gedanken vielen Menschen seiner Zeit zugänglich zu machen.
Vorgelegt hat Schwarzenberg eine vollständige, vielfältig kommentierte Übersetzung, überreich an Vor-und Randbemerkungen, die den Lesern das Verständnis erleichtern sollten. Das ganz Besondere an ihr aber ist, dass sie mit nicht weniger als 103 Holzschnitten ausgestattet ist. Diese sind nicht nur als bloße Illustration gedacht, sondern sie dienen der Erklärung des Inhalts. Zusätzlich sind den Holzschnitten Merkverse hinzugefügt, als weiteres Mittel, einer breiten Leserschaft die eher abstrakte Gedankenwelt des lateinischen Originals nahezubringen. So entstand eine Art Volkscicero.
103 Holzschnitte
prägen das Werk
Der bekannteste Holzschnitt ist das Porträt des Johann von Schwarzenberg selbst. Es zeigt den Freiherrn im Alter von 50 Jahren, umgeben von den Wappen seiner fränkischen Ländereien. Wir sehen in das sehr individuell gestaltete Gesicht eines Mannes von Adel, mit ausgeprägter Nase, vollem Mund, standesbewusst und souverän, dabei aber mit nahbarer, menschenzugewandter Ausstrahlung. Der mit dem Porträt beauftragte Künstler, der uns diesen Eindruck vom Wesen des Freiherrn vermittelt, war kein anderer als Albrecht Dürer. Als bedeutendster Maler und Zeichner der Renaissance hob er nicht nur das Porträt, sondern auch den Holzschnitt auf eine qualitativ neue Ebene. Der in unserer Ausgabe vorliegende Druck stammt allerdings von einer Kopie des originalen Druckstocks. Das war ein nicht ungewöhnliches Verfahren, denn die Anzahl der Drucke vom Original war begrenzt.
Die übrigen Drucke erreichen die gestalterische Qualität des Dürerschnitts nicht. Aber sie verdeutlichen alle das zentrale Anliegen des Textes, „von den tugendsamen emptern und zugehörungen eines wol und rechtlebenden Menschen“ zu berichten (Text Titelseite). Ein gutes Beispiel dafür ist das große Titelbild. Iulius Caesar thront in einer frühneuzeitlichen Rüstung selbstgefällig und unnahbar über den Untertanen. Damit verhält er sich falsch. In seiner distanzierten, selbstverliebten Erhabenheit verkörpert er die Gefahren der unumschränkten Herrschaft. Die Senatoren, deren kostbare Kleidung ebenfalls im Stil der Zeit gehalten ist, blicken verdrießlich drein. Sie sind als Repräsentanten der republikanischen Ordnung unzufrieden mit der Herrschaft eines Einzelnen. Im Hintergrund schreibt Cicero philosophische Werke. Weil er sich unter Caesars Alleinherrschaft nicht mehr politisch engagieren durfte, zog er gegen den Tyrannen mit seinen Worten zu Felde, formulierte Richtlinien für angemessenes politisches Handeln. Damit ist mit dem Titelbild eine wichtige Interpretationslinie gesetzt: Der Inhalt von de officiis sollte als Mahnschrift gegen jede Form von Diktatur gelesen werden. Denn das Ende Caesars kannte jeder.
Die meisten Holzschnitte setzen Tugenden oder Untugenden ins Bild. Leidenschaft, Wollust, Habgier, Ehrgeiz und Grausamkeit werden gegeißelt und lächerlich gemacht. Ehrlichkeit, Barmherzigkeit, Freigiebigkeit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Mitleid und Mäßigung dagegen werden gelobt und als vorbildlich dargestellt. Das wirkt manchmal sehr vereinfacht, manchmal auch übertrieben grob verbildlicht. Aber es entsprach eben Schwarzenbergs Intention, Ciceros oft theoretische Ausführungen auch für Leser ohne Kenntnisse klassischer Philosophie nachvollziehbar zu machen. Denn welcher Zeitgenosse hätte mit der zentralen These Ciceros, dass das Nützliche ohne das Ehrenhafte kein Gut sein kann, ohne holzschnittartige Veranschaulichung wirklich etwas anfangen können?
Begehrtes Sammlerstück
Unser Volkscicero ist mit vier anderen Schriften zusammengebunden. Jede einzelne wäre eine eigene Besprechung wert. Hingewiesen sei an dieser Stelle aber nur auf eine sehr seltene Lehrschrift für den jungen Kaiser Maximilian, den Großvater Karls V. Auch in dieser finden sich Grundregeln für eine gute Herrschaft. Die Schriften werden zusammengehalten von stabilen Holzbrettern, knapp zur Hälfte mit dunklem, geprägten Leder überzogen. Weder Autoren noch Titel sind auf dem Einband genannt. Ein eher unscheinbarer gelber Aufkleber auf dem Buchrücken jedoch erzählt viel über die wechselhafte Geschichte des Buches und seinen Wert. CIM/ 3 /7780 ist eine Kennzeichnung der Georg Wilhelm Leibnitz Bibliothek in Hannover und markiert das Buch als Zimelie, als Kleinod, als ein besonders wertvolles Stück. Im Jahre 1949 war es, zusammen mit mehreren Tausend anderer alter Bände, von der Schulleitung des damaligen Holzmindener Gymnasiums sehr leichtfertig nach Hannover abgegeben worden.
Dem Begründer der Schlossbibliotheken, Klaus Kieckbusch, gebührt das Verdienst, dieses Kleinod nach langwierigen Verhandlungen mit der Landesbibliothek in den Landkreis Holzminden zurückgeholt zu haben. Es gehört heute zur Historischen Bibliothek des Campe-Gymnasiums. Ein handschriftlicher Eintrag macht klar, dass es aus der Privatbibliothek des ersten Schulleiters der Holzmindener Stadt- und Klosterschule, Friedrich Wilhelm Richter, stammt. Der Bücherfreund Richter hatte es der Schule aus Verbundenheit geschenkt, möglicherweise anlässlich seiner Berufung im Jahre 1777 als Superintendent nach Lichtenberg. Man muss es sich immer wieder vor Augen halten: Zu diesem Zeitpunkt war das Buch bereits fast 250 Jahre alt und galt schon damals als ein begehrtes Sammlerstück.