Herzogenaurach/Stuttgart. Was das Auge sieht, ist nicht immer das, was auch wirklich zu sehen ist – oder zu sehen sein soll. Die englische Nationalmannschaft verlor das Halbfinale der Heim-EM 1996 gegen Deutschland in ungewohnten Auswärtstrikots, die in den Augen des englischen Publikums ganz klar grau waren. Hersteller Umbro widersprach: Das Trikot habe eine Farbe namens „indigo blue“ – und lasse sich hervorragend mit Jeans kombinieren.
Die deutsche Auswahl läuft beim zweiten EM-Auftritt an diesem Mittwoch (18 Uhr, ARD und Magenta TV) gegen Ungarn in Stuttgart erstmals in einem Pflichtspiel in den beliebten neuen Auswärtstrikots auf, die in der Wahrnehmung der Kundschaft lila-pink sind. Auch hier korrigiert aber der Ausstatter: Laut Adidas hat das Leibchen die Farben „Semi Lucid Fuchsia“ und „Team College Purple“.
Fußballfans sind Traditionalisten, wenn es um Trikotfarben geht. Schon deshalb war die Aufregung groß, als der deutsche Ausrüster im März das Auswärtshemd präsentierte. Deutsche Auswärtstrikots sind normalerweise grün, schwarz oder rot. Das neue Jersey hat eine Farbe, der man im DFB-Umfeld bislang nicht begegnet war. Und dann auch noch diese Farbe: Lila-Pink ist für viele Betrachter nicht unbedingt Synonym für fußballtypische Werte wie Härte und Kampfgeist.
Dass Adidas auch noch mitteilte, die Hemden sollten „die neue Generation deutscher Fußballfans und die Vielfalt des Landes repräsentieren“, löste bei Teilen der Öffentlichkeit den Verdacht aus, die Nationalmannschaft wäre für politische Zwecke gekapert worden – und das zwei Jahre nach dem Debakel um die „One Love“-Kapitänsbinde bei der WM in Katar. Entsprechend groß war die Empörung in einschlägigen Kreisen in den sozialen Medien. Der Ausstatter nahm dem Sturm geschickt die Wucht, indem er in der Werbekampagne zu dem Trikot mit der Häme gegen das neue Trikot spielte. Die Kontroverse um das Trikot dürfte zu seinem Erfolg beigetragen haben: Wie Hersteller Adidas gerade bestätigt hat, verkauft sich das lila-pinke Exemplar besser als alle deutschen Auswärtstrikots zuvor und genauso gut wie das aktuelle Heimshirt im klassischen Weiß. Bei den öffentlichen Trainings der deutschen Mannschaft vor der EM in Jena und Herzogenaurach sowie beim Turnierstart am vergangenen Freitag gegen Schottland (5:1) in München waren überall auf den Tribünen lila-pinke Tupfer zu sehen. Das neue Auswärtsdress wird übrigens von Menschen jedes Geschlechts und aller Altersgruppen getragen.
Adidas und dem DFB ist zum Ende der mehr als 70 Jahre langen Zusammenarbeit (ab 2027 werden die Deutschen von Nike eingekleidet) ein gemeinsamer Marketingerfolg gelungen, der nicht unbedingt vorhersehbar war. „Das pink-lilane Trikot war ein Risiko. Im Geschäftsleben muss man eben manchmal Risiken eingehen. Sonst gäbe es keine Weiterentwicklung”, sagte gerade Adidas-Fußballchef Nick Craggs im Gespräch mit der „Neuen Zürcher Zeitung“.
Die Deutschen sind übrigens nicht die einzige Nation, die vor der EM die Kundschaft verärgert hat. Teile des englischen Publikums betrachteten es als Anschlag auf traditionelle nationale Symbole durch eine politisch überkorrekte Elite, dass die normalweise rot-weiße Nationalflagge, das St. George’s Cross, im Nacken des englischen EM-Trikots in verschiedenen Farben gehalten ist, unter anderem in Lila und Pink. Die deutschen Trikots könnten beim Spiel am Mittwoch eher die Fans des Gegners als das eigene Publikum verärgern – über einige ungarische Hardcore-Fans ist bekannt, dass Vielfalt nicht zu ihren wichtigsten Werten gehört.