Mit der nötigen Gelassenheit

Erst Familie und Freizeit, dann klare Ansprachen: Bundestrainer Nagelsmann behält Augenmaß bei der großen EM-Aufgabe – auch Auswechslungen im DFB-Team gehören dazu

Ausgabe vom 19.06.2024
Seite 7
Von Roman Gerth undHendrik Buchheister


Vor der Einwechslung gegen Schottland: Bundestrainer Julian Nagelsmann instruiert Thomas Müller.Foto: IMAGO/Hoermann/Simon
Darf am Mittwoch in seinem Heimstadion ran: Der Stuttgarter Maximilian Mittelstädt trifft mit dem DFB-Team auf Ungarn.Foto: IMAGO/Grant Hubbs

Herzogenaurach/Stuttgart. Die Botschaft sollte klar sein: Julian Nagelsmann will die DFB-Auswahl geschlossen auf den zweiten EM-Auftritt einschwören. Kein Zufall war es, dass der Bundestrainer alle Nationalspieler einen Tag vor dem Gruppenspiel gegen Ungarn zu Beginn des Abschlusstrainings im Kreis um sich scharte. Was genau er seinen Fußballern da in Herzogenaurach minutenlang mit auf den Weg gab, war nicht zu verstehen. Eine Ansage, dass ein Sieg im Duell mit den Magyaren an diesem Mittwoch (18 Uhr, ARD und Magenta TV) den Einzug ins Achtelfinale bedeutet, dürfte aber Teil seiner Ausführungen gewesen sein.

So lautet die Zielsetzung für Gruppenspiel zwei beim Heimturnier. Das 5:1 vom Eröffnungsspiel gegen Schottland liegt nun fünf Tage zurück. „Durch den Auftakt haben wir uns Selbstbewusstsein erarbeitet“, sagte gerade Torwart Manuel Neuer, „aber Ungarn wird eine andere Nummer.“ Der Münchner Keeper spricht aus Erfahrung. Drei Duelle in Folge gab es keinen Sieg – die Spiele in der Nations League 2022 endeten 0:1 und 1:1. Das 2:2 im Aufeinandertreffen bei der EM 2021 reichte dem DFB-Team damals gerade so zum Weiterkommen.

Von vergangenen Ereignissen und Ergebnissen will man bei der deutschen Auswahl aktuell aber ohnehin nichts mehr hören. Zu gut ist die Stimmung, bestärkt durch die Gala gegen die Schotten und die spürbare Euphorie im Land. Der Start ist gelungen. Danach achtete Nagelsmann darauf, vor Partie zwei die richtige Mischung aus Gelassenheit und Fokus zu finden. Am vergangenen Wochenende waren die Familien zu Besuch. Das Trio Neuer, Thomas Müller und Jonathan Tah schaute bei der 75-Jahr-Feier von Sponsor Adidas vorbei.

Sportlich standen am Samstag das Training für die Ersatzspieler und am Sonntag individuelle Einheiten auf dem Programm. Das Motto: Kräfte sammeln. Erst am Montag zog der DFB-Coach die Zügel wieder an. Am Dienstagmorgen folgte das Abschlusstraining, noch am „Home Ground“ in Herzogenaurach, gegen 15.30 Uhr trat das Team im Bus die etwa zweistündige Reise nach Stuttgart an.

Welche Rolle der Austragungsort für gewisse Personalentscheidungen von Nagelsmann spielen kann, zeigte sich bei der EM-Eröffnung in München. Für Thomas Müller war dort der rote Teppich ausgerollt. Als der 34-Jährige in der 74. Minute in die Münchner Arena für Jamal Musiala ins Spiel kam, stand es 4:0 für Deutschland. Tosender Applaus brandete auf im weiten Rund, im Wohnzimmer des Routiniers, der in seiner kompletten Karriere immer nur für den deutschen Rekordmeister aufgelaufen ist.

Diese Aktion ist ein gutes Beispiel dafür, wie Nagelsmann die Mannschaft führen will. Fraglos ist Müller als Charakter mit viel Erfahrung ein wichtiges Puzzleteil im Plan des Bundestrainers. Ihn in München auflaufen zu lassen – und damit das Publikum besonders mitzunehmen –, ist dazu ein eindeutiges Zeichen. Nagelsmann sprach einmal davon, dass er bei den Spielern „weniger auf taktische Dinge, eher auf Soft-Skill-Aktionen“ schaut, wenn er sie bei ihren Klubs beobachtet. Beim Wechseln auch mal weniger taktische, sondern persönliche Überlegungen anzustellen ist dann wohl eine „Soft-Skill-Aktion“ des Bundestrainers.

Dass Maximilian Mittelstädt, gesetzter Linksverteidiger im DFB-Dress und beim VfB, in Stuttgart starten wird, überrascht niemanden. Doch so haben wohl auch weitere Vertreter der Schwaben, etwa der oft als Joker gekommene Flügelflitzer Chris Führich und Stürmer Deniz Undav, realistische Einsatzchancen. „Es gibt bei uns den Running Gag, dass wir schauen, ob ein Spieler Geburtstag hat oder spielt, weil er an dem Ort schon mal getroffen hat“, so Nagelsmann. Am Ende gehe es aber um Leistung. Auch das ist eine Botschaft, die er aussendet: Alle im Team gehören dazu, auf und neben dem Platz.